Die Vielfalt der unterschiedlichsten Inhaltsstoffe jedes einzelnen ätherischen Öles machen die oft so erstaunliche Heilkraft der Aromatherapie (und Aromapflege) aus. Keine Heilpflanze besteht nur aus einem einzigen Wirkstoff, selbst wenn er 95 Prozent eines daraus hergestellten Pflanzenheilmittels ausmachen sollten, bestehen die restlichen 5 Prozent oft aus einem bunt gemischten Cocktail von zahlreichen anderen Molekülen.

Monosubstanzen, also vom Menschen erschaffene Moleküle, haben oft nicht die gleiche Power wie natürliche Vielstoffgemische, auch wenn letztere immer wieder von Wissenschaftlern und ÄrztInnen verpönt werden (honi soit qui mal y pense – ein Schelm wer Böses dabei denkt).

Ein Wissenschaftler, der immer wieder die Besonderheiten der Vielstoffgemische betont (und untersucht hat), ist Prof. Jürgen Reichling, der darüber auf der Konferenz Botanica2012 sprach (ich schrieb hier einige seiner Erkenntnisse auf). Eliane Zimmermann AiDA Schule für Aromatherapie

Auf der Botanica-Konferenz 2014 sprach der italienische klinische Phytotherapeut Marco Valussi ausführlich und sehr eindrucksvoll über dieses spannende Thema. In den letzten Jahren gab es – unbemerkt von den meisten von uns Aroma-EnthusiastInnen – einiges an neuen Erkenntnissen über die Rolle von ätherischen Ölen in der Pflanzen- und Tierwelt.

Marco Valussi stellte die Frage, warum Pflanzen überhaupt flüchtige sekundäre Metaboliten, zu denen sowohl die duftenden Monoterpen-Verbindungen und auch die Phenole gehören, produzieren. Er stellte drei gängige Theorien vor und auch deren Schwachstellen.

  • Es kann sein, dass diese duftenden Moleküle rein zufällig entstanden sind.
  • Theorie 1: Im evolutionären Wettlauf mussten Pflanzen Waffen bilden, um sich gegen Fraßfeinde zu wehren (CAR-modell). Einzelne stark wirksame Moleküle werden dafür benötigt. Terpenoide werden von Pflanzen auch gebildet, weil sie den Ablauf der Photosynthese schützen müssen.
  • Theorie 2: Die ‘Screening Hypothesis’ (Filter-These) wurde erst 2003 aufgestellt, sie postuliert, dass die Evolution Organismen überleben lässt, welche ihre chemische Vielfalt mit möglichst niedrigem Aufwand produzieren und erhalten können. Möglichst viele – eher schwach wirksame – Moleküle werden von der Pflanze gebildet und ihre Synergie (ihr Zusammenspiel) helfen beim Überleben.
  • Theorie 3: Die dritte Theorie befasst sich mit den ‘Matrix metabolic pathways’, sie ist noch recht neu und scheint Elemente der beiden anderen Theorien zu beinhalten. Schwache und starke Moleküle können je nach Bedarf zusammen arbeiten.

Marco Valussi betonte, dass die so genannte ‘network pharmacology‘, also die vernetzten und gemeinsam agierenden unterschiedlichen Moleküle sehr gut von uns Menschen verarbeitet und genutzt werden können. Also eher schwach wirksame Pflanzenmoleküle können stärker wirksame Moleküle aktivieren.

Darum können Vielstoffgemische effektiver wirken als Monosubstanzen, denn sie steuern unterschiedliche ‘targets‘, also Wirkstoff-Ziele, in der Zelle an. Marco Valussi illustrierte dieses Thema anhand der verschiedenen Inhaltsstoffe von Thymianöl: p-Cymen (ein Monoterpen, es ist oft nur in geringen Spuren in ätherischen Ölen enthalten) kann die Zellemembranen von beispielsweise Bakterien sozusagen aufblasen, sie werden weniger stabil, durchlässiger.

Dann kommt Carvacrol zum Zug: Dieses phenolische Monoterpen, das als pflanzliches Antibiotikum gilt, kann nun leicht in die unstabile Zellmembran eindringen. So kann es seine “Killerwirkung” leicht und effizient ausführen. Geraniol (ein Monoterpenol, der in etlichen ätherischen Ölen vorkommt, auch in kleinen Mengen in Thymianölen), stört Pumpmechanismen in Zellmembranen und kann auch zur Störung oder Zerstörung der Bakterien beitragen – in Zusammenarbeit mit stärkeren Molekülen (auch in Zusammenarbeit mit Antibiotika). Das ist nun übrigens ein schöner Beleg für die wunderbare, inzwischen über 15 Jahre alte Arbeit der (damals) Jugend-forscht-Schülerin Ute Runkel zu genau dieser Zusammenarbeit aus Antibiotika und ätherischen Ölen.

Marco Valussi fasste zusammen, dass die ganz stark antibiotischen Inhaltsstoffe in ätherischen Ölen aufgrund ihres Molekülaufbaus die (feindliche) Zellmembran nicht sehr gut durch durchdringen können. Dagegen können die nicht so stark antibiotisch wirksamen Inhaltsstoffe in ätherischen Ölen aufgrund ihres ganz anderen Molekülaufbaus die [feindliche] Zellmembran viel leichter durchdringen und den “starken Kollegen” sozusagen den Weg ebnen.

Die phenolischen Verbindungen (in Thymianöl, Oreganoöl, Bohnenkrautöl, Zimtrindenöl, Zimtblätteröl, Tulsiöl, Gewürznelkenknospenöl etc) brauchen also ihre “schwächeren Mitspieler” wie Linalool, Geraniol und p-Cymen, um wirklich maximal aktiv sein zu können und unsere Gesundheit wirksam schützen zu können. Isoliertes Thymol beispielsweise, oder solches das im Labor gebastelt wurde (meistens noch mit mindestens 3 Prozent chlorierten Trägerstoffen), kann also niemals so effizient gegen Krankheitskeime wirken wie der natürliche “Cocktail” aus unterschiedlichsten Molekülen.


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Diese Theorie der Netzwerk-Pharmakologie ist laut Marco Valussi sehr stark, auch wenn sie nach wie vor mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. Er schloss seinen immens dichten Vortrag mit der Anmerkung, dass das Reduzieren der Aktivität einer Pflanze auf ein einziges Molekül schlechte Wissenschaft (bad science) sei. Denn oft hören und lesen wir, dass beispielsweise “Pfefferminzöl gegen Kopfschmerzen wirkt, weil [nur] Menthol kühlend und schmerzlindernd wirkt”, “Eukalyptusöl wirke bei Erkältungen, weil [nur] Eucalyptol schleimlösend und entzündungshemmend wirke”, “Kamillenöl wirke [nur] entzündungshemmend, weil Azulen enthalten ist” – das ist von mir etwas übertrieben formuliert, doch so ähnlich möchte die derzeitige Wissenschaft ihre Studienergebnisse begründet wissen. Darum haben es die Vielstoffsubstanzen-Forscher nicht immer leicht.

Der Vortrag (auf englisch) von Marco Valussi kann auf seiner Seite bei ResearchGate kostenlos als PDF-Datei runter geladen werden (dort muss man sich wie bei anderen Social Media-Seiten anmelden). Ein schöner Artikel in deutscher Sprache, in dem unter anderem diese Thematik durchleuchtet wird, wurde von Prof. Dr. Michael Wink, Uni Heidelberg, zusammen gestellt, er erschien in der Zeitschrift für Phytotherapie. Er hat etliche Bücher geschrieben, diesem Thema ist ein Kapitel im Buch Handbuch der Arzneipflanzen gewidmet. Es kann beim Sozialen Buchhändler Buch 7 bestellt werden und auch beim amerikanischen Bücher-Riesen. [Werbung, da Futter für Leseratten vorgestellt, also Kaufempfehlung 😉 Grafik: Eliane Zimmermann nach einer Grafik von Marco Valussi]

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