Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht!
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.

Keine Sorge, ich bin nicht unter die Lyrikerinnen gegangen. Außerdem ist das “Der Erlkönig” von J. W. von Goethe.

Wir wollen nun ein kleines Spiel machen und zwei Strophen dieses berühmten Gedichtes nach Kriterien der modernen Wissenschaft analysieren. Wie viele Zeilen zählt dieses Gedicht? Richtig, sechs Zeilen plus eine Leerzeile. Aus wie vielen Wörtern bestehen die ersten zwei Zeilen? Ganz klar, aus 60 Wörtern, sieht doch JEDER! Wie viele Buchstaben sind darin enthalten? Logo, 60 Buchstaben! Wie viele A’s finden wir darin? 10 x a und 2x ä, Herr Lehrer! In den zwei letzten Zeilen jedoch weder das eine noch das andere. Diese Antworten gelten überall und diese Fragen sind immer und von jedem Menschen REPRODUZIERBAR identisch zu beantworten. Auch wenn man das Gedicht einem x-beliebigen Menschen, also RANDOMISIERT ausgesucht, irgendwo auf der Welt zeigt (vorausgesetzt, er/sie kann Deutsch!) Wer das Gedicht nicht lesen kann, weil er blind ist, kann es sich vorlesen lassen oder gar von einem Blinden rezitieren lassen, DOPPELBLINDES Zuhören also, und dennoch wären die Antworten die gleichen.

Was hat das mit Aromatherapie zu tun? Sehr viel! Denn wenn ätherische Öle im klinischen Bereich auch nur in Erwägung gezogen werden, müssen wissenschaftliche Studien her! Reproduzierbar, doppelblind und randomisiert. Angeblich gibt es sie nicht. Doch es gibt viele, sehr viele, die meisten erfüllen mindestens eines dieser Kriterien.

Ich habe mal auf einem Vortrag gesagt, dass ich mich als “Botschafterin” sehe, diese Studien zu finden und in allgemein verständliche Sprache zu übersetzen (oder zunächst einfach nur aus dem Englischen ins Deutsche). Und mit der obigen Metapher will ich aufzeigen, dass ich immer wieder Bauchweh bei dieser Tätigkeit habe, obwohl ich sie zum momentanen Zeitpunkt als sehr wichtig betrachte. Gute Lyrik erkennt man selbstverständlich nicht (nur) an den aufgezählten Zahlen und Fakten. Ja, diese sind relevant, doch Lyrik ist mehr, viel mehr! In Reimen wie “Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad” wird man gewiss ebenso viele A’s finden und auch eine ähnliche Anzahl an Strophen und Zeilen wie beim kompletten Gedicht von Goethe. Kein Wissenschafter würde den Unterschied an dichterischer Kunst abstreiten.

Bei der wissenschaftlichen Anerkennung der Naturheilkunde und insbesondere der ätherischen Öle, zählen jedoch zur Zeit nur die Anzahl der Vokale, die Zeilen, die Strophen, die Reproduzierbarkeit, die doppelblinden Studien, die randomisiert ausgesuchten “Versuchskaninchen”. Noch sehr wenig werden die Jahrtausende alten Erfahrungen der Menschheit mit Heilkräutern anerkannt.

Die Gedicht-Metapher stammt übrigens nicht von mir, sondern vom renommierten Physiker und Co-Inhaber des Friedensnobelpreises Prof. Hans-Peter Dürr (*1927). Ich wünsche euch ein schönes Wochenende!